Jan Hartman
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Akademie Verlag
Hegels politische Philosophie
Zweiter Teil

Jan Hartman, Kraków

"HEGEL LESE ICH AUCH"

 

Der Titel des vorliegenden Beitrags ist ein Zitat. Es stammt aus dem Mund einer überdurchschnittlich begabten Promovendin, einer Soziologin, die ich fragte, wie sie mit der ungeheuren Masse an Lektüre umgehe, was bei dieser Arbeitsweise herauskomme und ob auf den Bücherlisten auch Hegel vertreten sei. Hegel – auf den ich mich hier nicht als Kenner, sondern nur als "vernünftigerweise zu erhoffender Leser" beziehe – hat uns im Grunde keine Chance gegeben, seine Lehre in einen umfassenderen Lehrkanon einzuordnen, ohne sie gleich zu dessen Mittel- oder Endpunkt zu machen. Er lässt es auch nicht zu, dass wir nach einer tiefgehenderen Bekanntschaft mit seinem System und seiner Sprache noch etwas Unabhängiges sagen, und dies in einer ruhigen Sprache, wie es einem souverän denkenden Philosophen gebührt. Hegel hat uns keine Chance gegeben: Wir können ihn höchstens verstehen. Ein Mehr würde unsere Kräfte übersteigen. Somit hat er sich der historischen Gemeinschaft der Philosophen entfremdet und steht nun einsam auf einem Sockel, umgeben von Philosophiehistorikern und Spezialisten. Dies ist ein soziologischer Fakt, der freilich philosophisch interpretiert sein will. Einen Ansatz hierzu finden wir bei Hegel selbst, und zwar in seinem Text "Über das Wesen der philosophischen Kritik überhaupt, und ihr Verhältniss zum gegenwärtigen Zustand der Philosophie insbesondere"1, wo er von einem aristokratisch-philosophischen Standpunkt aus die Bedingungen ernsthafter Kritik in der Philosophie analysiert.

Dabei erweist sich, dass Kritik nur zwei grundsätzliche Möglichkeiten hat. Entweder sie überwindet eine unreife bzw. auch eine vernünftige Philosophie und ist somit selbst ein Schritt auf dem Weg zu einem System, oder aber sie verwirft etwas, was sich auf unphilosophisch-ignorante Weise das Recht anmaßt, zu urteilen. Die Frage ist, ob es bei einer solchen Alles-oder-nichts-Haltung noch möglich ist, Hegel loyal, aber doch auch unabhängig zu lesen. Kann man "ein bisschen hegelianisch" sein, Hegel lesen, ihn schätzen, von ihm lernen und trotzdem seinen eigenen Weg gehen? Und wenn ja: wohin?

Der junge Hegel beginnt seinen erwähnten Essay mit einer wahrlich platonischen Deklaration: "Die Kritik, in welchem Theil der Kunst oder Wissenschaft sie ausgeubt werde, fordert einen Maasstab, der von dem Beurteilenden eben so unabhängig, als von dem Beurtheilten, nicht von der einzelnen Erscheinung, noch der Besonderheit des Subjekts, sondern von dem ewigen und unwandelbaren Urbild der Sache selbst hergenommen seye"2. Für eingeweihte Hegelleser steht außer Frage, dass sich die hegelsche Spekulation an die Sache selbst hält. In Hegels Bewusstsein hat sich der absolute Geist mit der historischen und persönlichen Subjektivität des Philosophierenden ausgesöhnt und konnte somit endlich zu direkter Rede übergehen – und zwar im theoretischen Bücherschaffen als spezifischem Teilgebiet der Besonderheit.

Mit anderen Worten, Hegels Werk, obgleich in der historischen Gesamtheit gesellschaftlicher Bedeutung und Erfahrung vermittelt, ist zugleich auch in sich selbst auf vollkommene Weise vermittelt. Es widerspiegelt sich selbst in Reflexion und Selbstwissen, die so sehr vervielfältigt und tiefgehend sind, wie dies festzustellen nur unsere intellektuellen Kräfte zulassen. Jedes Wort, jeder hegelsche Begriff spiegelt alle anderen, und mit ihnen die gesamte Wirklichkeit, wider und nimmt sie in sich auf.

Die monadische bzw., wie wir heute sagen würden, hypertextuelle Verfasstheit des Hegelschen Werks ist eine absolute Errungenschaft, außerhalb derer und über die hinaus wir nichts mehr erwarten sollten, falls wir vernünftig sind. Selbst wenn es gelänge, hier noch ein Detail zu verbessern, bliebe dies bedeutungslos. Wir sind mit einem Reichtum und einer Perfektion beschenkt worden, die so oder so über unsere Möglichkeiten hinausgehen und jegliches philosophische Bedürfnis übererfüllen. Uns bleibt die Priesterrolle in Hegels Geistestempel oder selige Ignoranz und lächerliche Begriffsspalterei, überflüssig und verspätet, aber wenigstens unserer Kragenweite angemessen.

Hegels Genialität lässt uns also verstummen und verzagen. Trotzdem sollte unser Selbstwertgefühl verhindern, dass wir uns vollkommen versklaven lassen, schon deshalb, weil dies mit der Grundhaltung des Philosophierens unvereinbar ist – zwar will uns eine diensteilige hermeneutische Sophistik einflüstern, dass neue Zeiten neue Herausforderungen mit sich bringen, dass die philosophische Wahrheit rekonstruiert und immer wieder auf neue Weise formuliert werden will, in einer den neuen Zeiten angemessenen Sprache. Doch die Wahrheit ist eine andere. Es gibt keinen Grund, Hegel immer wieder in neue Kleider zu hüllen. Wenn dies geschieht, so einfach nur deshalb, weil der originale Hegel für die meisten Leser zu schwierig ist.

Ich möchte den Eindruck vermeiden, ich sei bekennender Hegelverehrer. Ich glaube zwar, dass in der Philosophie weder vor noch nach Hegel etwas Vollkommeneres und Universaleres entstanden ist, ganz abgesehen davon, dass wir so etwas gar nicht bräuchten, da wir ja nicht einmal das Vorhandene für unsere eigene Erbauung solid auszunutzen verstehen. Aber dieser Umstand lässt mich gleichgültig, etwa so, wie wir angesichts des Umstands, dass jemand eine schönere und bessere Ehefrau hat, gleichgültig bleiben oder dies zumindest versuchen. Hegel selbst gab sein Einverständnis zu einer solchen Haltung des Ausharrens bei den eigenen Überzeugungen bzw. der Zufriedenheit mit dem, was man hat. Wie wir uns in seinen psychologischen Ausführungen der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (vgl. Ausgabe 1830, Par. 453-458) überzeugen können, affirmiert Hegel auf eine bemerkenswerte und für ihn selbst eigentlich recht untypische Weise eine personale, geradezu egoistische Quelle des Theoretischen, und zwar die auf Vorstellungskraft und "zeichenbildende Phantasie" aufbauende menschliche Intelligenz. Aus dem "unbewussten Bergwerk der Intelligenz" erblickt die individuelle Persönlichkeit das Licht der Welt, und sie verdankt es der Arbeit der Vorstellungskraft und der phonetischen Ausdruckskraft. Wer ein Wort ausspricht, indem er seine eigene Vorstellungskraft in die "Zeichenpyramide" des Klangs einschließt, der erschafft sich selbst und wirkt mit an den Grundfesten einer Gemeinschaft kommunizierender Intelligenzen. Dieses Konzept ist wohl keine besonders glänzende Sprachontologie, aber im Gesamtzusammenhang des Hegelschen Systems doch eine bedeutende Aufwertung der personalen Wurzel jeglicher Artikulation und damit auch jeglicher theoretischer Arbeit. So erweist sich, dass das Tribunal der Wahrheit – und noch der höchsten Wahrheit – letzten Endes jener Geist ist, der durch die enge Kehle (oder eher den Bergwerksschacht) einer privaten, individuellen Persönlichkeit gepresst wird, sobald diese einen Ton von sich gibt.

Und so gelangen wir zu dem Punkt, dass die eingangs zitierte Aussage der jungen Wissenschaftlerin, so entwaffnend "assertorisch" und naiv sie in den Ohren eines Philosophen geklungen haben mag, in jeder Hinsicht angebracht war. Im Stillen hatte ich über dieses Dictum: "Hegel lese ich auch", herzhaft gelacht. Aber möglicherweise zeugt diese Unbefangenheit eines jungen Menschen von einer gesunden Einstellung, während hinter meinem gutmütigen Lacher die frustrierte Komplexbehaftetheit eines Philosophen zum Vorschein kommt, der sich seinem großen Vorgänger nicht das Wasser reichen kann. Der Promovendin kam so etwas nicht einmal in den Blick. Komplexe und Niederlagen mitsamt der ganzen Hegelverehrung bleiben ihr erspart, im Unterschied zu mir. Aus diesem Grund – und da ja alles in der Philosophie von individueller Vorstellungskraft und Intelligenz ausgeht und zu ihnen zurückkehrt – sollte Hegel "normal" gelesen werden. Ich gestehe gerne zu, dass mir dieser Gedanke zum ersten Mal kam, als ich die im Titel erwähnten Worte hörte. Hegelspezialisten sind ja nun in ihrer Beschäftigung mit dem Meister sicher am allerweitesten von der Natürlichkeit einer lebendigen Intelligenz entfernt und am ehesten Komplexen ausgesetzt. Und Texte zu Hegel sind, wenn sie von der einschlägigen skrupulösen Art abweichen, in der Regel einfach unklug und arrogant. Andererseits aber ist Ignoranz mitunter besser und frischer als gelehrte "Interpretation" und Exegese. Wer die Wahrheit über Hegel sucht, ist moistens mehr hinter einer Hegelschen Wahrheit her als hinter der Wahrheit als solcher. Unsere hermeneutisch geprägte Mentalität scheint hier ein wenig verlogen, zumindest aber zur Verlogenheit geneigt. Sie ist weder bescheiden noch aufrichtig. Aber das ist schon wieder eine andere Frage.

Mein inneres Lachen über den Satz "Hegel lese ich auch" hat sich letztens für mich als reinigend erwiesen. Die Konfrontation mit diesem Profanum befreite mich aus einem krankhaften und verfälschten Verhältnis gegenüber meinem Meister. Und jetzt bin ich selbst das Profanum für eine Versammlung von Hegelkennern, die wahrscheinlich wesentlich tiefer als ich im Epigonentum stehen. Daher meine Bitte, die Unangebrachtheit meiner Aussage zu einer veritablen Erfahrung werden zu lassen und die eigenen Empfindungen vor dem Hintergrund des Hegelschen Verständnisses von philosophischer Berufung zu überdenken. Dabei geht es nämlich um ein durchaus wichtiges Problem. Da Hegel seine Werke nicht nur für künftige Hegelkenner, sondern für Menschen schrieb, die einfach philosophieren, muss bei der Bewertung seines Denkens auch die Rezeption durch Inkompetente berücksichtigt werden, also die Auswirkung des Hegelschen Werks auf die intellektuelle Verfassung nichtinvolvierter Philosophen. Mit aller Sicherheit wäre es weder im Sinne Hegels noch klug, die Welt in Hegelkenner und Ignoranten aufzuteilen.

Daher meine Frage an Sie: Haben Sie Instrumente erarbeitet, um sich mit anderen über Hegel zu verständigen? Ich meine freilich anderes als Expertenaussagen und stützende Zitatketten. Haben Sie einmal Vorträge für Nichtinvolvierte gehalten? Wenn nicht, so ist Hegel gescheitert. Vor Ihnen steht ein im statistischen Sinne durchschnittlicher Adressat der philosophischen Bemühungen Hegels. Sie hingegen gehören nicht zu den Durchschnittlichen. Von der demokratischen und psychologische Note seiner Theorie habe ich bereits gesprochen. Unter Berufung darauf, das heißt auf Hegels Aufwertung der individuellen Intelligenz und auf die sozialen Kompetenzen der Mitglieder der Gelehrtengemeinschaft, frage ich Sie: Was soll ich mit der Lektüre einiger Tausend Seiten Hegel anfangen, was soll ich anfangen mit dem von Hegel Gelernten?

Was immer Sie mir auf diese Frage antworten, es muss einen Vorschlag enthalten, wie der Verrat an Hegel oder zumindest das Abgehen von ihm zu rechtfertigen sei. Ich brauche – und das erwarte ich, meine Damen und Herren, von Ihnen – eine Rechtfertigung dafür, dass "ich Hegel nicht mehr lese". Ich habe ihn von vorn bis hinten durchgelesen und lese nunmehr anderes, nehme also das unbestreitbare Recht in Anspruch, weder Hegelianer noch Hegelforscher sein zu müssen. In jedem anderen Fall muss jedoch ein rationaler Grund für den Abbruch der Hegellektüre eine gewisse Form der Kritik an ihm sein. Ich warte also auf Ihre Ratschläge und komme indes auf das zurück, was Hegel selbst im angesprochen Text über philosophische Kritik und ihre Gültigkeit sagt.

"Die Philosophie nur Eine ist, und nur Eine seyn kann"3, denn es gibt nur eine Vernunft. "Wo aber die Idee der Philosophie wirklich vorhanden ist, da ist es Geschäft der Kritik, die Art und den Grad, in welchem sie frey and klar hervortritt, so wie den Umfang, in welchen sie sich zu einem wissenschaftlichen System der Philosophie herausgearbeitet hat, deutlich zu machen"4. Wenn etwas anderes als der systematische Aufbau einer philosophischen Lehre akzeptiert werden kann, so ist es nur eine philosophierende Literatur als Ausdruck von Schöngeistigkeit. Einem schematischen, vereinfachenden und abstrakten Denken, das dem Gemeinverstand philosophische Würde zusprechen will, darf hingegen keinerlei Platz eingeräumt werden. (Wir wissen, Hegel war diesbezüglich wie besessen.5) Es kann zwar nur eine Philosophie geben, und ernstgemeinte Kritik hat dies hinzunehmen und vorauszusetzen. Dennoch gibt es beim Philosophieren Platz für Individualität, die allerdings nicht mit Subjektivität und der entsprechenden Beschränktheit verwechselt werden darf. Selbst in einer unreifen Philosophie, wenn sie nur ernst gemeint ist, gilt es "Geistesblitze" ausfindig zu machen. Schlimmer verhält es sich, wenn das Bedürfnis nach Ausdruck der eigenen Persönlichkeit gegenüber dem Willen zu echter Wahrheitssuche, die Überhand gewinnt. Faulheit und Eitelkeit suchen dann Vorwände, um – statt eine philosophische Lehre systematisch aufzubauen – zufällige Festlegungen oder "Ansichten" zu formulieren, an denen sie Gefallen finden. Dann darf es keine Gnade geben, eine solche Haltung verdient offene Verachtung.

In Deutschland will jeder, wie Hegel verärgert feststellt, sein eigenes System haben, das seiner Persönlichkeit entspricht. Diese traurigen Gestalten vertrauen auf die subjektive Originalität des Durchschnittlichen, denn hier gibt es nicht mehr zu holen als die Partikularität von Standpunkten. Echte Originalität ist das Privileg des Genies. Nun ist es ein Leichtes, ein Genie zu spielen, indem man sein Lieblingsprinzip zum einzigen und absoluten erklärt. Eine noch hinterhältigere Methode, einen echten Philosophen vorzuspielen, liegt in der scheinphilosophischen Begründung dafür, dass die Nichtphilosophie – und hierzu gehören alle Erfahrungswissenschaften – das Recht habe, die Philosophie zu verwerfen. Hier haben wir eine der schönsten Tiraden Hegels gegen Kant. Eine Philosophie, die sich selbst als kritische bezeichnet, ist nach Hegels Worten eine Parodie von Kritik, eine Affirmation der Endlichkeit unter dem Vorwand, dass die Aufgabe der Philosophie, insofern sie theoretisch ist, unausführbar sei. Und so weiter, und so fort. Diese Hegelsche Art des Kritisierens ist reichlich beunruhigend, denn sie verschont niemanden, der vor Hegel philosophiert hat. Ich will mir trotzdem noch ein Zitat gestatten, eine bitterböse, doch auch ziemlich aktuelle Bemerkung Hegels über das Herabsinken der Philosophie zu volkstümlichem Gehabe in Zeiten allgemeiner Aufklärung und Demokratie: "In diesen Zeiten der Freyheit und Gleichheit aber, in welchen sich ein grosses Publicum gebildet hat, das nichts von sich ausgeschlossen wissen will, sondern sich zu allem gut, oder alles für sich gut genug halt, hat das Schönste und das Beste dem Schicksal nicht entgehen können, dass die Gemeinheit, die sich nicht zu dem, was sie über sich schweben sieht, zu erheben vermag, es dafür so lange behandelt, bis es gemein ist, um zur Aneignung fähig zu seyn; und das Plattmachen hat sich zu einer Art von anerkannt verdienstlicher Arbeit emporgeschwungen"6.

Die Philosophie schwimmt zwar einerseits im chaotischen Schmelztiegel der Moderne, hat aber andererseits auch Anteil an den Anstrengungen zur Überwindung jenes Dualismus, der die Kultur des "Nordwestens" quält. Der Kampf der Vernunft gegen den Verstand findet gerade in der Philosophiegeschichte statt, denn der Durchschnittsverstand ist dem philosophischen Geist feindlich gesinnt und zuwider.

Hegels bösartiger Sarkasmus erreicht seinen Höhepunkt am Ende des Essays und in den abschließenden Worten schlägt die Bitterkeit vollends durch: In der Philosophie nehme Kritik üblicherweise die Form einer Polemik an. Polemik aber sei, als zufälliges Engagement der Vernunft und gegenseitige Abhängigkeit beider Seiten, "Nichts für die wahre Philosophie".

Dies alles läuft darauf hinaus, dass philosophische Kritik die Kritik dessen ist, was in der Philosophie nur den Anschein von Philosophie hat, sowie dessen, was in ihr noch nicht vollendetes, in ein System gefasstes Selbstwissen ist. Kritik müsste also als Randbemerkung zu philosophiegeschichtlichen Vorlesungen betrieben werden, entsprechend intensiv dort, wo von den direkten Vorgängern und Zeitgenossen Hegels die Rede ist. Um Wiederholungen zu vermeiden, sollte sich das kritische Bestreben der Philosophie hierin erschöpfen. Alles Polemisieren ist erniedrigend für die wahre Philosophie. Dem System der Vernunft kann Kritik ohnedies nichts ausmachen, verfügt es doch über ausreichendes Selbstwissen, das sein inneres Wesen bestimmt. Abgesehen von einem einmaligen Akt der Selbstreinigung und der radikalen Trennung von Philosophie und Nichtphilosophie ist Kritik eigentlich überflüssig.

Ich gebe zu, ich hatte mir von dieser Lektüre mehr erhofft. Ich glaubte erfahren zu werden, wie ich, ein "kleiner Philosoph von der Straße", ein freier Geist sein kann. Stattdessen erklärt mir Hegel, dass Individualität durchaus im Spiel sei, vorausgesetzt freilich, sie ist genial. Rätselhaft bleibt auch, was nun die individuelle Marke sei, die das Genie der erhabenen Begriffsmaterie aufdrücken darf. Die aussöhnende Verbindung von psychologischer Partikularität – dh. der eigenen Persönlichkeit – mit der Universalität der Wahrheit steht nur dem genialen Philosophen zu, in welchem sich – gerade deshalb – die Philosophiegeschichte erfüllt. Geht es hier möglicherweise nur um den Stil, um Ausstattung und Eigentümlichkeit der Sprache, um eine bunte Biographie im Hintergrund? Nein, denn all dies sind keine philosophischen Angelegenheiten. Die "universell gültige Partikularität des Philosophierens", wie man das in Hegelschem Sinne nennen müsste, ist – soweit ich weiß – ein Problem, das nur vom berühmten Theoretiker der "Besonderheit" höchstselbst gelöst wurde.

Wenn wir fragen, was die Menschheit und der Geist der Geschichte nach der Etablierung der Moderne noch zu tun haben, so lautet die Antwort: Sie sollen an sich selbst lustvoll Gefallen finden und in ihrem Reichtum ruhig ausharren (hinzu käme freilich der Kampf gegen bedrohlich-reaktionäre Kräfte). Hegel gab mir keine Antwort auf die Frage, wie ich Philosoph sein soll, ohne in behäbig-selbstgefällige Lektüre des Meisters, eine Art Hegelforschung auf alle Zeiten, zu verfallen. Alles hat den Anschein, als bestünde die conditio sine qua non einer Befreiung von diesem Sklavenschicksal in nichts anderem als Genialität. Man muss ein Genie sein, um mit vollem Bewusstsein sagen zu können: "Hegel lese ich auch". Ich vermute, dass die Urheberin dieses unerhörten Ausspruchs darauf zurückgeben würde:

"Wenn Sie unbedingt wollen, kann ich für Sie ein Genie sein". Frustrierte Menschen sind in der Auseinandersetzung mit gesunden immer die moralischen Verlierer. Selbst wenn sie genial sind. Dieses Schicksal traf Hegel. Seit über 200 Jahren lesen wir ihn "auch" und vergeben ihm gnädigerweise den Partikularismus seiner verbissenen Leidenschaftlichkeit.

1 In: G.W.F. Hegel,Jenaer Kritische Schriften, Bd. 4, Hrsg. V. Hartmut Buchner u. Otto Poggeler, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1968, S. 117–128.
2 Ibidem.
3 Ibidem.
4 Ibidem, S. 119.
5 "Da es nich ekelhafteres giebt, als diese Verwandlung des Ernsts der Philosophie In Plattheit, so hat die Kritik alles aufzubieten, um diess Ungluck abzuwehren", ibidem, S. 120.
6 Ibidem, S. 125.

 

Prof. Dr. Jan Hartman
Zaklad Filozofii i Bioetyki
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